Ein echter Malocher beendet nach 21 Jahren seine Karriere als Zuhörer, Seelsorger und moralische Instanz. Mit Jürgen Domian verliert das Radio eine wahre Legende und einen Menschen, der sich immer mit den Anrufern identifizierte. Was den Mann zu einer Ikone machte, haben wir in diesem Artikel zusammengefasst.
Am 16. Dezember wurde, nach über 20 Jahren und rund 23.000 Telefongesprächen, die letzte Sendung mit Moderator Jürgen Domian ausgestrahlt. Immer mitten in der Nacht von 01:00 bis 02:00 Uhr ging der Moderator mit seinem Team auf Radio 1Live und im WDR auf Sendung und die Menschen konnten mit ihren Sorgen und Nöten anrufen und sich Ratschläge holen. Viele Geschichten und Schicksale waren abschreckend, ergreifend und teilweise skurril. Manchmal war selbst der erfahrene Moderator so sprachlos, sodass nur der Psychologe in seinem Team dem Anrufer wirklich weiterhelfen konnte. Die Sendung wurde immer von Dienstag bis Samstag ausgestrahlt und blickte hinter die Fassade eines makellosen Deutschlands.
Die menschlichen Abgründe, die sich in der Sendung offenbarten, waren für viele Zuhörer kaum zu begreifen. Die Anrufer waren zahlreich und ihre Schicksale sehr verschieden: Es meldeten sich Gefängnisinsassen, Arbeitslose, Menschen die Angehörige verloren hatten oder schwer erkrankt waren. Oder Anrufer, die einfach jemanden zum Reden gebraucht haben.
In vielen Geschichten waren der Schmerz und das Leid der Leute deutlich zu hören und man fühlte, wie es einem eiskalt den Rücken runterlief. Zu einer seiner Anruferinnen, der schwerkranken, jungen Celia, hielt er sogar Kontakt, um über ihren Gesundheitszustand informiert zu bleiben. Nach ihrem Tod vermachte sie ihm eines ihrer Lieblingsbücher. Auch die Nonne Katharina, die die Anrufer von Domian regelmäßig in ihre Gebete einschloss, war einer der Kontakte, die Domian pflegte. 2003 erhielt Jürgen Domian eine Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland für sein soziales Engagement.
Eine gehörige Portion Voyeurismus war natürlich mit von der Partie, aber deshalb kann man Domian nicht den Erfolg absprechen, mit dem er sich um die Anrufer bemüht hat. Der Talkmaster versuchte dabei immer Ruhe und Gelassenheit auszustrahlen und war gerade bei Themen wie Homosexualität oder sexuellen Praktiken tolerant. Manchmal war aber auch seine Geduld am Ende, die Folge waren Anzeigen oder hitzige Diskussionen mit seinen Anrufern. Wenn Gefahr im Verzug war, handelte das Team initiativ, wenn es darum ging, die Polizei zu informieren. Doch gerade deshalb hörten sich die Menschen seine Show an. Domian ist auch nur ein Mensch aus Fleisch und Blut, deshalb sind solche Reaktionen ganz normal und verständlich.
Das zeigt auch sein vorletztes Gespräch mit der 91-Jährigen Lore, die nach dem Tod ihres Mannes den Lebenswillen verloren hat, das ihn ein bisschen unzufrieden zurücklässt, da er am Ende des Telefonats zu dem Schluss kam, er könne ihr keinen Rat geben. Diese Zerrissenheit beweist, dass er immer mehr sein wollte, als nur ein Zuhörer, vielleicht kein Seelsorger, aber einer der mit seiner Persönlichkeit für Haltung steht und als Ratgeber fungiert.
Über den Menschen selbst erfuhren die Zuhörer in den 21 Jahren sehr viel. Domian, Sohn eines Hausmeisters und einer Putzfrau, erzählte von seiner Kindheit und den Schwierigkeiten, die er als junger Mensch zu meistern hatte. Der Moderator hatte selbst eine bewegte Vergangenheit, von einer Essstörung bis hin zum Kampf um seine sexuelle Orientierung . Genau dieser Hintergrund und seine Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen, machten den Einzelkämpfer einzigartig in der deutschen Radiolandschaft. Viele Anrufer bedauerten in der letzten Show das Ende einer Ära. Neben seinem politischen Engagement setzt er sich auch für die AIDS-Hilfe ein und unterstützt ehrenamtlich das Zentrum für Palliativmedizin der Uniklinik Köln.
Die Begründung für das Ende der Show formulierte der Moderator vielleicht deshalb sehr bescheiden: Jürgen Domian wollte einfach wieder einen Sonnenaufgang erleben. Genau wie die Kumpel im Stollen hatte er in den letzten Jahren die Sonne selten auf seiner Haut gespürt.